Die Wirkung des Schattenspiels - Versuch einer Erklärung

Die besondere Wirkung von Schattentheater auf den Betrachter ist ein Phänomen, das häufig beschrieben wird. Um es zu erklären, sind wir aus Mangel an eigenständigen Forschungsergebnissen darauf angewiesen, Erkenntnisse aus anderen Gebieten zu entlehnen, die besser untersucht sind und sich auf das Schattentheater übertragen lassen. Dies soll vor allem auf psychologischer Ebene erfolgen. Auf den Einsatz des Schattenspiels in der Psychotherapie, der sich inhaltlich anschließen würde, soll hier allerdings verzichtet werden.
  

Begriff des Schattens

Bei den 3. Internationalen Schattenspieltagen referierte der Psychotherapeut Dr. Müller über "den Schatten und das Unbewußte", indem er sich auf die Jung'sche Definition von Schatten bezog, in der Schatten das Unbewußte, Verdrängte, die dunkle Hälfte der Persönlichkeit ist, die man nach und nach durch Projektion verdrängt hat. (Vergl. Jung, Bewußtes und Unbewußtes, Often 1957)
   Diese Definition läuft parallel zu dem, was wir volkstümlich als "Schattenseiten" definieren. Daß die Jung'sche Definition in Hinsicht auf Schattentheater nicht weiterhilft, liegt auf der Hand: Wer würde ein "Festival des Bösen und Verdrängten" inszenieren oder besuchen? Neben dieser negativen Assoziation besteht eine andere positive. Sie wird uns in Assoziationen zum Schatten deutlich. Der aufrecht Gehende und Stehende hat einen Schatten, während der Tote, Liegende keinen oder zumindest keinen lebendigen Schatten hat. Dies ist eine Prämisse für den Schluß, daß man im Schatten das Leben, die Seele zu sehen hat. Dies zeigt auch die Identität in der Benennung beider. Schatten, Bild und Seele sind in vielen Kulturen identisch (z,B. Azteken, Zulus, Patagoniern, Arowaken und den kanadischen Wilden. Quelle:Hist, Magazin 1/ 4 Abh. 14)
   Das Bild eines lebendigen Wesens, dessen Schatten sich ständig verändert und so nirgendwo bleibende Schatteneindrücke hinterläßt, wie dies ein totes Objekt tut, das das Licht von einem Ort permanent fernhält. macht es uns möglich, beide Aspekte des Schattens (Schattenseite: das permanente Fehlen von Licht - tot und Schatten: Licht und Schatten wechseln - lebendig - Seele) zusammenzufügen. Das natürliche Band. das Menschen und Schatten verbindet, wurde zum magischen. Dämonen. Gespenster. Zauberer etc. werfen keinen Schatten, sie existieren nur ideell in derSpekulation. die ihnen Körper, Seele und Sein verleiht.

Der schwarze Schatten des Lebenden ist schon im Altägyptischen zum Träger psychischer Funktion geworden und deshalb im Schlaf und im Tode vom Menschen getrennt. Dies zeigt die Entwicklung vom physischen Schatten zur psychischen Schattenseele. überraschend stimmt die in vielen Kulturen sich findende primitive (im Sinne von nicht wissenschaftliche) Psychologie der Traumvorstellungen überein. Traum und Tod werden als Heraustreten der Seele - bzw. ihrer bildhaften Darstellung - aus der Körperhülle dargestellt. Durch Störung eines Schlafenden wird die Wiedervereinigung mit seiner Seele verunmöglicht.

Der Schatten in der Werbung: Ford-Escort - schnell wie ein Pferd

Die Werbung und der Schatten

Die Wirkung des Schattens macht uns eine Reihe von Werbespots deutlich. Die Reklamewirkung basiert auf der informationstheoretischen Annahme, daß um so mehr Aufmerksamkeit erregt wird, wenn entweder die erworbenen Kommunikationsnormen verletzt werden oder die Aussage auf Archetypen basiert und sie somit völlig vorhersehbare Erwartungen erfüllt.
   Im Werbespot "Auto mit Tierschatten" wird durch doppelte Metonymie (d.h. die Herstellung einer unzweifelbaren Identität zweier Fakten mittels Nebeneinanderstellen ausführlich: Eco Semiotik der visuellen Codes) die Metapher, daß die inneren Werte des Autos einem schnellen, geschmeidigen Jaguar entsprechen, visualisiert. Damit vereint diese Werbung beide Formen: Erstens die Verletzung der Kommunikationsnorm "Ein Auto hat einen Autoschatten" "und zweitens basiert sie auf einem Archetypus" Ein Schatten zeigt die inneren Werte ( = Seele) verläßlicher als das äußere" und rechtfertigt so die hohen Produktionskosten. (Vergl. Der Schatten als neues Stilmittel in der TV- und Kinowerbung, Schattentheater2, 1994)

Märchen und Trivialliteratur

Märchen und Trivialliteratur bauen - trotz ihrer unterschiedlichen künstlerischen Qualität - auf gemeinsamen Strukturen auf. Um die Identifikation des Lesers/Sehers/Hörers zu ermöglichen bzw. zu verbessern, bauen sie dort, wo Identifikation stattfinden soll, auf Beschreibungshüllen auf, die eine individuelle Ausgestaltung dieser Matrix für ein möglichst breites Publikum ermöglichen. Dies geschieht so, daß z.B. der Held im Märchen oder im Trivialroman ein "Junge mit strahlenden Augen" ist und nicht "Eugen Schulze, blond, groß, mit blauen Augen". Die zweite Beschreibung würde eine Identifikation erschweren, sobald jemand anders heißt, braune Haare hat, klein ist und grüne Augen besitzt. Allein das Nichtzutreffen eines Merkmals schließt Personen aus.
   Auf das Schattentheater bezogen heißt dies: Die Reduktion der Merkmale einer Person auf ihre Silhouette ermöglicht eine maximale individuelle Ausfüllung dieser Silhouette mit der Wirkung, daß ganz unterschiedliche Menschen sich mit ihr identifizieren können. Je stärker aber eine Binnenstruktur dargestellt wird, desto schwieriger ist eine Identifikation mit der gezeigten Figur. Also kann schon bei der Produktion einer Silhouette der Identifikationsgrad gesteuert werden.
   Hierzu ein praktisches Beispiel aus der Schattenproduktion des "Kleinen Prinzen" von St. Exupéry in der Bearbeitung der Vagantei Erhardt: Mit der Figur des Kleinen Prinzen soll der Zuschauer sich möglichst weitgehend identifizieren können. Daher wurde sie schlicht gehalten, mit modeunabhängiger Kleidung und geringer Binnenstruktur. (Nur Auge und Ohr machen seine Fähigkeit zu sehen und zu hören deutlich und lassen ihn damit lebendiger werden.) Die Gestaltung des Kopfes erwies sich als besonders schwierig, da das Epos viele Menschen bewegt und sie sich ein inneres Bild von ihm gemacht haben. Differieren nun inneres Bild und angebotenes Schattenbild. so wird eine Identifikation und die übernahme des Schattenbildes erschwert. Obwohl die inneren Bilder von Person zu Person variieren, stellte sich doch ein Archetyp heraus. Im Verlauf der Produktion der Schattenfiguren wurden 30 Köpfe erprobt. bis der gef unden war. der dem Archetyp der befragten Personen entsprach.
   Im Gegensatz dazu steht ein Antipode des Prinzen, der Geschäftsmann, dessen Eigenschaften wichtigtuerisch, hektisch, aktionistisch. bürokratisch. sinnentleert und gefühllos sind. Diese Figur sollte keine Identifikationsfigur werden, aus diesem Grund konnte sie aus drei Elementen zusammengesetzt werden dem Oberkörper eines geschniegelten Geschäftsmannes mit kleinen Pupillen. einem Schreibtisch, der den Unterleib ersetzt und einer Kinderrechenmaschine, die zwischen dem Schreibtisch plaziert wurde. Alle Elemente sind durch eine Binnenstruktur artifiziell gestaltet.
   Die Reaktionen des Publikums vieler Aufführungen und die anschließenden Gespräche zeigten die angestrebte ldentifikation mit dem Kleinen Prinzen und keine Beschwerden uber die artifiziell-irreale Gestaltung des Geschäftsmanns

Psychotherapeutische Verfahren und Schattentheater

Die imaginativen Verfahren der Psychotherapie wie Hypnose, Katathymes Bilderleben (KB), Progressive Muskelrelaxation oder Autogenes Training und unter ihnen besonders der gelenkte Tagtraum (KB) haben die größte Nähe zur Wirkung des Schattentheaters. Sie basieren auf einem Zustand der vertieften psychophysischen Entspannung, der durch systematische Techniken der Relaxation erreicht werden kann. Hierbei können optiscne Phänomene imaginativer Art hervorgerufen werden, die sich durch ein regreßives Erlebnisniveau auszeichnen.

Katathymes Bilderleben:
Wenn man Leuners (Bern 1990) Beschreibung vom Katathymen Bilderleben liest, könnte sie auch für das Schattentheater geschrieben sein: Phänomenologisch betrachtet ist die Vision irgendeines Gegenstandes im allgemeinen dadurch gekennzeichnet, daß das Objekt in der Vorstellung farblos bleibt und mit einer gewissen Willensenergie festgehalten werden muß. Im Zustand der Reiaxation tritt jedoch ein neues Moment hinzu. Die Vorstellung wird erheblich lebendiger, sie gewinnt an Farbigkeit. an Plastizitat, entwickelt sich zu einem dreidimensionalen Objekt und befindet sich in einer Umwelt, die der Betreffende in seiner optischen Phantasie durchschreiten kann.

Tagträume:
Der Tagtraum operiert also auf zwei Bevvußtseinsebenen gleichzeitig, auf der des Realbewußtseins (iinke Gehirnhälfte Sekundärprozeß - Bewußtes) und der des Bildbewußtseins (rechte Gehirnhälfte - Primärprozeß - Unbewußtes). Phantasie und Symbole sind dabei die entscheidenden Funktionen in diesem Prozeß. Beiden ist gemeinsam, daß sie eine Transfunktion zwischen primitiv-archaischer, präverbaler Primär- und reifer Sekundärorganisation des lchs darstellen. Eine Auseinandersetzung mit innerseelischen Vorgängen kann, teilweise auf unbewußter Ebene, eventuell auf vor- oder gar auf bewußter Ebene stattfinden, je nach dem, wie weit es gelingt, das Innerpsychische wahrzunehmen und erlebbar zu machen. Jetzt kann sie quasi Objektcharakter annehmen, was eine Konfrontation und ein Abreagieren von intensiven Gefühlen (Katharsis) ermöglicht.
   Schattentheater könnte man als gelenkten kollektiven Tagtraum bezeichnen. Der Zuschauer hat hier die Möglichkeit, diskret (d.h. von anderen unbemerkt) zu regredieren. "Diskretion" ist dabei besonders wichtig, da die Regression eines Erwachsenen und die damit verbundenen primärprozeßhaften Reaktionen von der Umwelt belächelt oder gar verspottet werden. Im primärprozeßhaften Erleben wird die rational-intellektuelle Abwehr unterwandert, wodurch eine Wahrnehmung von unterschwelligen emotionalen Reizen möglich wird. Je mehr sich ein Zuschauer auf diese Prozesse einläßt, desto weiter kann Schattenspiel als Selbsterweiterung erlebt werden. (Vergl. Kohut 1979)
   Das Schattentheater ermöglicht damit eine Tiefenwirkung, die anderen Arten des Figurentheaters nicht möglich ist. So beschreibt A. von Bernus (1880-1965), der Gründer der Schwabinger Schattenspiele: "Allein das Eigentliche und tief Ergreifende des Schattenspiels liegt ... ganz im Seelischen. Es spiegelt am reinsten die entmaterialisierte Welt der wachen Träume, die feinste Linie zwischen Sein und Schein."

"Subjektsprung":
Das Wissen um diese Vorgänge im Zuschauer sollte ein Schattenspieler vor Augen haben, wenn er das dramaturgische Mittel des Subjektsprunges in seiner Inszenierung einsetzt. (Zumal bei den drei Ebenen/Schatten - Figur - Spieler/sogar bis zu zwei Subjektsprünge auf einmal vollzogen werden können.) Es kommt in seiner Wirkung einem abrupten Aufschrecken aus einer Tiefenebene des Bewußtseis gleich - falls vorher eine solche erzielt worden ist - und verhindert ein Sich-wieder-Einlassen des Zuschauers im weiteren Verlauf des Stückes. Dieses abrupte Aufschrecken würde im therapeutischen Bereich als Kunstfehler gelten. Der Befürworter eines Subjektsprungs im Figurentheaters Knoedgen schränkt warnend ein: "Ein persönliches Auftreten (des Spielers)... kann, wenn es dramaturgisch unbegründet ist, ebenso irrelevant oder gar störend sein wie das traditionelle Verborgensein." (Knoedgen 1990, Das unmögliche Theater, S. 77) Für das Schattentheater kommt die beschriebene psychiscrie Komponente weiterhin einschränkend hinzu.
  

Zusammenfassung in Thesen

• Die Bewußtseinsebene der Zuschauer wird - außer durch die Figuren und die Handlung -durch Ebenenwechsel bestimmt.
• Schattenspiel kann eine vertiefte psychophysische Entspannung bewirken.
• Die Relaxation kann durch systematische visuelle und/ oder akustische Techniken erreicht werden.
• durch Kombination von verschiedene Ebenen (z.B. das Profil eines Menschenschattens, der mit einem Figurenschattens spricht und agiert) können besondere Wirkungen erzielt werden.
• Je tiefer der Zuschauer sich einlassen soll, desto weniger darf ein Subjektsprung erfolgen.
• ein unvermitteltes Herausreißen aus der Tiefendimension kann traumatische Folgen haben.
• das Schattenbild ermöglicht einen Kreisprozeß wie folgt: Der Schatten ruft eigene innere Bilder hervor, die dann auf die "leeren Schatten" zurückprojiziert werden können, die neue Bilder auslösen usw.
• Schatten werden zugleich innerhalb als auch außerhalb des Zuschauers erlebt.
• die Schatten sprechen das regressive primärprozeßhafte Bildbewußtsein an.
• scharfe Schatten vergrößern die Realitätswirkung. Farbschatten erhöhen das Maß der Irrealität.
• Farbhintergründe vermitteln eine Stimmung, die szenisch verstärkend eingesetzt werden kann.
• Eine archetypische Silhouette ermöglicht eine archetypische Projektion.
• Je stärker die Binnenstruktur einer Figur ist, desto weniger erlaubt sie dem Zuschauer eine Ausgestaltung.
• Je größer die Identitfikation des Zuschauers mit einer Figur ist, umso weniger einschränkende Elemente darf sie aufweisen.
• Verlangsamte Bewegungen der Schattenfiguren werden als adäquat wahrgenommen, Bewegungsgeschwindigkeiten, die mit der Realität identisch sind, werden als schnell oder gar hastig wahrgenommen (Verg. Traumebene).

Die spezifische Wirkung des Schattentheaters, das seine Stärken im ästhetisch Feinen und Transzendenten hat, hatte zur Folge, daß es nie zum Volkstheater wurde (und werden wird), sondern Theater von Künstlern und lntellektuellen ist. Je stärker die Sinnsuche einen Einzelnen oder eine ganze Gesellschaft beschäftigte, desto größer war die Nachfrage und das Angebot von Schattentheater.

Frieder Paasche (Dipi. Pädagoge, Kommunikationswissenschaftler und Schattenspieler) Deutschland